Das mobile Internet im Smartphone hat den Alltag erobert, doch nun spinnen neue Geräteklassen einen digitalen Kokon um den User. Sie erweitern den digitalen Lifestyle über Apps hinaus, überwachen die Gesundheit, eröffnen ganz neue Wege, mit Netzinhalten zu interagieren. Die Universalschnittstelle naht.

Zwei Augen starren Lisa (32) aus den Datenkolonnen an, die einen Meter vor ihr durch den Raum zu fließen scheinen. Sie hat von ihrem Auf­traggeber einen neuen Big-Data-Algorithmus bekommen, den sie nun testweise auf Waren-bewegungen eines Logistik-Dienstleisters loslässt, doch ein interessantes Muster hat sich noch nicht aufgetan. Lisa dreht die Datenkolonnen mit einer Handbewegung zur Seite und blickt durch das transparente Display leicht entnervt auf. Die Augen gehören zu einem ihrer Workspace- Nachbarn, ein Data Artist wie sie und nicht uninteressant, aber ganz schlau wird sie aus ihm noch nicht, obwohl sie schon mal einen Scan über seine Identität durch alle Netze hat laufen lassen.

„Hättest du Lust, heute Abend ins Kino mitzukommen?“, fragt er. „Ins Kino??“ – „Ja, im Cineplexx zeigen sie ‚Wall Street‘ – und zwar im Original. Nichts mit 3D-Immersion.“ Wall Street. War das nicht dieser Film aus dem letzten Jahrhundert, in dem Michael Douglas mit diesem lächerlich großen Mobiltelefon am Strand entlangspazierte? Lisa muss unweigerlich lächeln bei dem Gedanken, als plötzlich ein fetter Schriftzug vor ihr aufleuchtet: „U GOTTA SEE THIS“. Der Algorithmus hat ein Muster in den Warendaten gefunden. „Wow!“, entfährt es Lisa, das muss sie sofort an John (41) schicken. Der nimmt für seine Firma ein paar Tausend Kilometer entfernt an einer ImCO, einer Immersion Conference, teil. Es geht um die Strategie der nächsten vier Wochen, um Drohnen, Transporter und Fracht­schiffe besser für die Auslieferung der neuen Sendai-Pflegeroboter abzustimmen. John M. breitet mit einer virtuellen Handbewegung das Analyse-Ergebnis vor den Teilnehmern aus.

„Das hier kam gerade rein, es könnte erklären, warum wir im letzten Monat in London Über-kapazitäten aufgebaut hatten. Sehen Sie, das Feedback aus Dubai kam durch fehlerhafte Sensoren im Umschlag leicht zeitversetzt ins System, weshalb die Lager in London weiter orderten.“ „Ich werde das Sensornetz sofort überprüfen lassen“, sagt der Avatar der Dubai Logistics City Inc. und wendet sich an seinen rechten Nachbarn: „Wie wäre London bestückt, wenn die Verzögerung nicht aufgetreten wäre?“ Der Vertreter des Simulationsanbieters schaut auf: „Geben Sie mir zehn Minuten, um die korrigier-ten Daten durch das Modell laufen zu lassen.“ Der Avatar der Amazon-Managerin erhebt sich und sagt: „Okay, machen wir zehn Minuten Pause.“ Die Etikette in ImCos ist strikt der alten Welt der Geschäftsdiplomatie nachgebildet. Dann ist die Amazon-Frau verschwunden. John M. klinkt sich ebenfalls aus der ImCo aus, atmet tief durch und schaltet auf Arbeitsmodus um.

„Good job, Lisa! Seems you got us out of trou­ble“, leuchtet es auf Lisa Bildschirm auf. Und schon ploppt die nächste Nachricht auf: Der Datensatz für ihr neues Tracker-Armband ist ausgedruckt. Sie meldet sich aus dem System ab und geht ins Erdgeschoss, wo sich unter dem Workspace ein kleiner Fabrication Hub von Fedex befindet. Der Mann am Schalter übergibt ihr in einem Beutel – aus Bioplastik natürlich – den fer­tigen Titan-Armreif für ihr Tracker-Modul. Genau genommen ist es ein kompliziertes Gebilde aus ineinander verwundenen Schlangen. Das kleine Tracker-Modul mit den Fitness-Sensoren fällt darin gar nicht auf. Dann stutzt Lisa

. Auf dem Bauch einer der Schlangen ist ein Anonymous- Fragezeichen in einem fünfzackigen Stern eingeprägt. Dieser kleine Maker, geht es Lisa durch den Kopf, ist also auch so ein Anarcho.
Dieser kleine Maker ist Leon M. (18). Er selbst würde sich nie Maker nennen, er zieht den Be­griff Sculptor vor. Sculptors sind Spezialisten, die 3D-Modelle aller Art für Additive-Manufacturing- Maschinen aller Art erstellen. In der Regel als Freiberufler. Leon M. hat erst vor kurzem die Schule geschmissen, um sich ganz aufs Sculptor- Geschäft zu konzentrieren. Leute wie Lisa sind für ihn Lemminge, die sich dem Diktat der Versicherungen beugen und brav rund um die Uhr ihre physiologischen Daten übermitteln, um ihre Krankenversicherungsprämie zu senken. Ein Tracker, wie Lisa ihn trägt, ist für ihn ein No-Go. Sein Body Area Network (BAN) aus Weste, Kappe und Brille hat sich Leon selbst zusammen­gebaut. Nie käme er auf die Idee, eines dieser Mainstream-Produkte von HTC, Samsung oder Google zu tragen, die inzwischen permanent mit Spam-Visualisierungen zugemüllt werden.
Erst letzte Woche ist ein Mann in Berlin ins Brandenburger Tor geknallt, weil er sein BAN beim Fahren nicht runtergedimmt hatte und ihm plötzlich eine Pornowerbung in der Windschutzscheibe erschien. Der konnte von Glück reden, dass gerade keine Passanten seinen Weg kreuzten. Während Lisa ihren Tracker-Armreif im Hub abholt, sitzt Leon mit seinen Kumpels wie elektrisiert im virtuellen „Maschinenraum“ ihres Wohnprojekts. Gebannt verfolgen sie in ihren Brillen das Drohnen-Ballett, das sie gerade auf dem Platz vor dem Rathaus aufführen. Sie haben sich vor zehn Minuten in die Drohnenflotte von Polizei und Feuerwehr gehackt und die Fluggeräte zum Amtssitz des Bürgermeisters dirigiert, um ein Zeichen gegen seine Hardliner-Politik zu setzen. Jetzt bilden sie einen rotierenden fünfzackigen Stern am Himmel. Jugendliche Renitenz wird wohl nie aussterben.

Sandra S. (47) findet diese Renitenz gar nicht komisch. Erst vor kurzem hatte eine andere Daten- Protestaktion die Produktion ihres Unternehmens für 18 Minuten aufgehalten. 18 Minuten, in denen keine Hunter montiert wurden – und viel Geld ver­loren ging. Dabei sind Hunter doch ein enormer Fortschritt für die Landwirtschaft: Die Mikroroboter schwärmen durch Getreidefelder und beseitigen Schädlinge mittels Laserbeschuss. Keine Pestizide, keine grüne Gentechnik mehr – was wollen diese Bengel eigentlich, hatte sich Sandra S. gefragt.

Die Werkshalle, die sie managt, ist im Grunde keine Werkshalle im herkömmlichen Sinne, sondern ein Netz aus ehemaligen Büroetagen in verschiedenen innerstädtischen Bürovierteln. Nach den abenteuerlichen Leerständen in Bürogebäuden Mitte der Zehner-Jahre wurden sie nach und nach mit „intelligenten“, platz- sparenden Fertigungsstraßen gefüllt. Sandra S., ursprünglich Wirtschaftsinformatikerin, koordiniert als Subcontractor für einen internationalen Hersteller zehn solcher Etagen. Natürlich von zuhause aus – aus alter Gewohnheit arbeitet sie immer noch mit einem klassischen Rechner.

„Lunch?“, flimmert es plötzlich auf ihrem Bild­schirm. Sandra S. drückt OK, aktiviert ihr BAN und verlässt die Wohnung. Im Treppenhaus – den Aufzug benutzt sie nie – geht sie den Mittagstisch im „Addis“ zwei Straßen weiter durch. Vor eini­gen Jahren gab es noch etliche kleine Drohnen- Delivery-Dienste, doch wurde der innerstädtische Luftraum nach zu vielen Karambolagen 2022 endgültig gesperrt. Nur die großen Logistik- Unternehmen bekommen noch eine Lizenz.

Als sie im Addis ankommt, ist ihr Injera mit Hühnchen-Curry schon aufgetischt. Äthiopische Küche ist der Renner der 20er-Jahre. Das Addis hat Michael A. (70) vor drei Jahren aufgemacht, kurz nach seinem 67. Geburtstag. Dass die Rente hinten und vorne nicht reichen würde, war dem Landschaftsarchitekten schon lange klar gewesen. Das Startkapital hatten er und seine Mitstreiter per Crowdfunding in 24 Stunden beisammen gehabt – auch dank der Hilfe seines Neffen Leon M., der wusste, wie man das Projekt verkauft.

Belustigt bringt Michael A. das Curry zu Sandra S. „Siehst du den Typ dahinten in der Ecke?“, sagt er und zeigt auf einen jungen Mann im kragenlosen Anzug mit einem blonden Afro. „Der sitzt jetzt schon seit zwei Stunden in einem Meeting mit Hyderabad und Rio und schlingt währenddessen sein Essen runter. Schade drum.“ Video Meetings sind die Billigalternative zu ImCos und in den Innenstädten eine ähnliche Plage geworden wie einst die berüchtigten Mobiltelefonate in der Bahn. Aus unerfindlichen Gründen gehen inzwischen viele für die Meetings in Restaurants, vielleicht hängen sie dem alten Glauben nach, beim Essen ließe sich besser verhandeln.

Michael A. hat hingegen seinen Frieden mit der Welt geschlossen. Neben dem Addis be-treibt er noch einen Lieferdienst für Restaurants, vorwiegend im Viertel. Sein Neffe hat ihm eine App programmiert, mit der er die Auslage in den vernetzten Ständen im Großmarkt prüft, samt Herkunftsangaben. Er gibt dann Order für Zucchini, Tomaten und diverse andere Lebensmittel auf, die mit einem autonomen Laster zugestellt werden. Anders als beim PKW haben sich autonome Fahrzeuge für die inner-städtische Logistik in den vergangenen Jahren enorm schnell etabliert. Der autonome PKW konnte sich hingegen, anders als die Projekte von Google und Autoherstellern Anfang der Zehner-Jahre vermuten ließen, nicht durchsetzen. Auf die Freude am Fahren wollten nur wenige Menschen verzichten.

Der blonde Afro gehört Jan P. (28), der jetzt das Restaurant verlässt. Während in seinem Brillen- Display die Überweisung 0,57 Bitcoin bestätigt wird, kommt eine Nachricht rein: „Hey Jan, schön, dass der Herr auch wieder erreichbar ist. Hast du den ProjectionSpace im Europa-center klargemacht?“ Mist, das Europacenter, fährt es Jan P. siedend heiß durch den Kopf.

Jan P. ist ein Platzierer für ein internationales Werbenetzwerk. Er ist spezialisiert auf personalisierte Werbekonzepte im öffentlichen Raum. „Gib mir eine Stunde“, antwortet er und setzt sich in Bewegung. Aufmerksam beobachtet er die Informationen, die ihm während des Gehens in sein Sichtfeld eingeblendet werden. „Burger für 0,17 Bitcoin“, springt ihn die Werbung für einen nahegelegenen Imbiss an. „Was für Stümper“, denkt er. Seine Tätigkeit sieht er, die er an der Kunsthochschule Animationsdesign studiert hat, als Interaktionskunst. Neben seinem Werber-Job entwickelt er ein Urban Space Game, von dem er sich den großen Durchbruch erhofft. Eine neue Nachricht erscheint. „Check Lisa“, steht da, „9 out of 10“. So einen Treffer hat sein Dating-Proposal-Dienst schon seit drei Wochen nicht mehr ausgespuckt. Ihr Profil ist genau sein Ding. Nur warum um alles in der Welt geht sie heute Abend ins Kino? Und dann noch mit diesem Data Artist? Das wollen wir doch mal sehen, denkt Jan P., und macht sich an die Arbeit.
27.12.2014 | 1142 Aufrufe

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